Dieser Artikel von Thomas Sattler-Fujimoto erschien in der Ausgabe 36 (02/2021) des 'rohrblatt-Magazins. Wir danken Herrn Sattler-Fujimoto sowie Heike Fricke vom Finkenkruger Musikverlag herzlich für die Abdruckgenehmigung auf unserem Blog! Viel Freude beim Lesen!

Manchmal muss es doch das Extreme sein, was uns die Wertigkeit unserer Arbeit erkennen lässt. Und meist beginnt es im „normalen” Alltag mit einer Kleinigkeit und wächst dann weit über das Gewöhnliche hinaus.
„Wir haben ja schon einmal telefoniert, will ihre Tochter denn jetzt mit Klarinettenunterricht anfangen?” „Gerne, aber können Sie sich den vorstellen unser Kind zu unterrichten? - Sie hatte eine Hirnblutung und ist partiell Linksseitig gelähmt (!) Obwohl dies das Aus sein soll, will sie doch so gerne Klarinette spielen...”.
Wir trafen uns das erste Mal. Dieser Moment änderte Vieles im Leben eines Mädchens, einer Familie und eines Klarinettenlehrers. Eine junge elf Jährige humpelte mit verkrampftem linken Arm und energischer, energiegeladener Mutter in den Raum, lies sich auf den Stuhl plumpsen und schaute sich neugierig um. Auf ihrer, von ihrer Mutter etwas unbeholfen zusammen gebauten neuen, deutschen Klarinette, quetschte die Schülerin irgendwie einen Ton heraus. Und zeigte ihren unbedingten Willen „Ich will Klarinette spielen”.
Da zeigt sich dann die gewohnte Routine, „oh je, was für ein Blatt, erst mal eines suchen, anpassen, tiefer in den Mund nehmen, Luft fließen lassen...” und siehe da, das Mädchen machte alles mit, verstand und spielte einen sauberen Ton, - aber zu kurz…
Und so begann für alle eine schwierige Zeit.
Die berufstätige Mutter fand in der Unterstützung ihrer Tochter eine neue Sinnhaftigkeit in ihrer vom Schicksal vorgesehenen Lebensaufgabe.
Ein Kind durfte plötzlich kein „normales” Mädchen mehr sein. Ihr Leben wird nur noch geprägt von Schule, Therapie und etwas Entspannung beim mühsamen Klarinettenspiel.
Ein Klarinettenlehrer der versprach, dass wir das hinbekommen und täglich ausprobierte, wie diese vollmundige Beteuerung den möglich sei, und immer versucht war den Therapeuten zu spielen und mit Zauberhand alles zu lösen. Die Trickkiste das langjährige Wissen, wurde gefordert, die Kenntnis eines freien Spiels, die Nutzung der Obertonstrukturen und vor allem die Empathiefähigkeit.
Nachdem eine Halteschnur die Klarinette sicherte und die rechte Hand entspannte, wurde die linke Hand „ersetzt”. Schaumgummi Ohrstöpsel verschlossen die Löcher, die Ringe mit Blätter-Resten verkeilt oder Gummis zugezogen und später das Überblasen mit einem Blatt unter der Duodezimklappe ermöglicht.
Die Luftführung wurde mehr und mehr leichter und locker. Dass eine halbseitige Lähmung auch Lungenmuskel und Zwerchfell betrifft musste man erst einmal begreifen… Tolle Ideen wurden entwickelt, wie eine Klarinettenröhre aus Hartschaumstoff mit Löchern zum Vorbereiten auf das Spiel.
… aber es dauerte...lange...sehr lange...zu lange... was schlussendlich zu einer starken Belastung und hohem zeitlichen Bedarf führte, und in einem monatelangen Aussetzen des Unterrichtes endete.
Vielleicht wäre ein Musiktherapeut mit Klarinette doch die bessere Lösung gewesen, aber wo finden? - Aber wir verstanden.
Drei Menschen mit starkem Willen mussten lernen ein gemeinsames Ziel zu verfolgen, denn nur gemeinsam, fokussiert wird diese Arbeit möglich. Und so entstand das perfekte Schüler-Eltern-Lehrerdreieck. Eine engagierte Mutter, die sich in die Musik hineinarbeitete, Stücke helfend oder zusätzlich arrangierte, ein Lehrer mit kreativen Ideen und einer Sensibilität, die forderte aber auch loslässt. Einem jungen Mädchen, dass ihre Kraft und Willen einer beginnenden Pubertät nutzte sich ihr neues Lebensbild aufzubauen und nicht den Status quo akzeptieren wollte.
Der Unterricht wurde natürlich auf eine Stunde ausgebaut, alle Stücke mussten ungewohnt arrangiert, Mitspiel-CD’s besonders ausgesucht, und mit Abspielsoftware in der Tonhöhe angepasst werden. Doch vor allem musste die junge Klarinettistin verstehen mit der Tongebung flexibel umzugehen, intonieren lernen und die dritte Oktave nur mit geschickter Obertontechnik zu meistern. Auch entdeckten wir neue Möglichkeiten die 4 Seitenklappen es’/be’’, f’… unkonventionell zu nutzen.
So wurde es möglich, dass die jetzt fünfzehn Jährige von tief e bis g’’’ mit Ausnahme von f’-be’ alle Töne sauber spielen kann, das Probespiel fürs Schulorchester bestand und sich neben ihren Pop-Songs der (hohen) Chalumeau Literatur widmet.
Doch vor Allem hat sie das Gefühl endlich den Menschen etwas zurückgeben zu können. Was mehr ist, als alle Energie, die wir in dieses Kind investierten. Es ist nicht das erste Mal, dass sie im Unterricht spielt und man als Lehrer weinend zuhört und es ist nicht das letzte Mal.
Wie geht es weiter? Dank der Firma F.A. Uebel kommt ein neuer Mitspieler ins Rennen. Frau Stölzel, die Chefin, und Nicolai Pfeffer sind hier Gleichgesinnte. Durch Innovationen und geballtes Fachwissen einer Weltfirma werden neue Ideen kreiert. Seien es u.a. ein neues Klarinettenhaltesystem, eine Art Reformboehm mit „deutschen” Rollen, erogometrische Klappenverbünde...
Und wenn die Teenagerin immer noch voller Neugier in den Präsent-Unterricht kommt, in den Atempausen von ihrem Pferd erzählt und voller Stolz sagt „Guck mal” und da zuckte der linke Daumen, dann begreift man voller Respekt, dass es mehr gibt als Corona und ungewollten Online-Unterricht … und all die Mühen sind verflogen, denn es ist einfach toll ein Lehrer zu sein!!